DIFFERENT BOMBS ist in diesem verdammten Coronajahr entstanden und dann etwas anderes geworden, als geplant.

Eine Erforschung der Gleichzeitigkeit von Opferschaft und Täterschaft wollten wir versuchen, einen feinen Faden spinnen: aus dem Berlin des zweiten Weltkriegs, den schwersten Bombardements Belgrads durch die Nazis im März 1941, über die völkerrechtswidrigen Luftangriffe durch die NATO in der gleichen Stadt 1999, bis hin zur Gegenwart.

Das wollten wir, ohne diesen Faden vom noch frischen Blut aufgeweicht, zu zerreißen, ohne ihn durch die weite Spannung von Orten und Zeiten an Kontur und Farbe verlieren zu lassen. In den Biografien meiner Mitmusizierenden, den Erzählungen ihrer Schwestern, Tanten, Väter und Onkel, Großmütter wollten wir sie finden, die Trümmerbrüche der Seelen, in diesem verdammten Europa der Täter. Denn wer zugleich Opfer und Täter ist, dem ist der Weg zur Heilung verstellt.

Wie ein weltliches Fegefeuer, reichen wir den rauchenden Schutt von Generation zu Generation weiter. Wer seine Opferschaft bewältigen will, muss frei sein von Schuld. Denn es ist ein unauslöschliches Tabu, dass das Berlin der Nazis, dass Belgrad, als Hauptstadt der mordenden Serben, von Menschen aus Fleisch und Blut bewohnte Städte waren. Führen die verstellte Trauer, der verbotene Schmerz, das unbewältigte Trauma zur kollektiven Strafe? Sind unsere Seele verschmort, von den Taten unserer Vorfahren?

Während der Arbeit an diesem Stück riss die Wirklichkeit eine andere Wunde in mir auf. Denn ein neuer Krieg wurde langsam, aber sicher wieder zur spürbaren Möglichkeit in Europa. Der aserbaidschanische Diktator Aliyev ließ Truppen in das von Armenien besetzte Bergkarabach einmarschieren. Eine Folge des Versagens der Weltgemeinschaft und der zahnlosen OSZE die, typisch für uns feiste Europäer, dreißig Jahre die Beobachtung eines Status Quo verwaltete, statt wirklichen Frieden zu stiften.

Eine weitere Wunde meiner Biografie, weil sich genau hier mein verdammter Kreis schließt, in der Fortsetzung des von den Türken 1915 begonnenen und bis heute nicht vollendeten Genozids an den Armeniern, den meine armenische Großmutter als Waisenkind überlebte. Und so entsteht hier und mit diesen Zeilen eine Wutschrift in Aufruhr, Schmerz, Ärger über diese bedauerliche Spezies Mensch, die wir sind.

Wie müssen unsere Großeltern des Krieges überdrüssig gewesen sein, nach 1919 und 1945. Was müssen fast zwei Jahrzehnte der Verwüstung für die Psychen der Menschen bedeutet haben?

Denkt daran, wenn ihr euch heute zu Recht um die Unversehrtheit eurer Kinder im Alltag einer verdammten Pandemie sorgt.

Die Wege der Menschen sind wunderbar. Wir leben in einer Gesellschaft, die heute, in der Folge von Jahrhunderten blutiger Kriege und Gegenwarten, den Tod aus unserem Leben regelrecht wegzivilisiert hat.

Tod findet nur noch im Unsichtbaren statt und vor allem: Niemand muss mehr Verantwortung für ihn übernehmen. Die Industrialisierung des Tötens beinhaltet mindestens drei bis ins letzte Detail ausgeklügelte Kulturtechniken.

Erstens, der Bau von Waffen, die anonymisiertes Töten ermöglichen. Zweitens, die Verschleierung und Diversifizierung der Produktion von Waffen bis eine für die Produktion verantwortliche Person nicht mehr kenntlich gemacht werden kann. Drittens, die Entwicklung gesellschaftlicher Regeln und Strukturen, in denen die Verantwortung für das kriegerische Töten anderer nicht mehr Einzelnen zuzuordnen, sondern quasi vollständig vergesellschaftet ist.

Odysseus nannte dem Kyklopen Polyphem seinen Namen: Niemand. Und stach ihm sein einziges Auge aus. Niemand hatte dem Kyklopen das Augenlicht genommen. So ist auch heute Niemand für den abgerissenen Arm des Kindes in Stepanakert oder die zerfetzten Leiber der Soldat:innen in Schuschi verantwortlich.

Die Türken eilen ihren aserbaidschanischen Brüdern zu Hilfe und liefern Waffen, die unter Zuhilfenahme deutschen Know-Hows produziert wurden. Die Schlachten finden ohne Schlächter statt und unsere Gesellschaft befreit sich von jeder Schuld.

Festgehalten in diesem Jahr des eingeschränkten Reisens, in der Unmöglichkeit mit Zeitzeug: innen hier und Waffenproduzent:innen dort zu sprechen, wurde ich fündig in der Biografie meiner Berliner Tante, die als Jugendliche gleichzeitig den Verlockungen der Nationalsozialisten verfiel und als 1929 geborenes Mädchen, schwer traumatisierende Kriegsjahre durchlebte.

Alles steckt in ihren heute neunzig Jahre alten Knochen: strukturelle Mitschuld, Verletzung, Hybris der Täterin, das Trauma von Hunger, Todesangst und Verzweiflung.

Meine Gespräche mit ihr habe ich in einem Text verdichtet. Ich wünsche mir, dass er als ein warnendes Gleichnis wirkt, für den Irrweg, auf dem wir uns befinden, wenn wir glauben, der Verantwortung für unsere Taten ausweichen zu können.

Starte den Sound und lies!

Starte den Sound und lies!

I
Fünfundvierzig – das war schlimm. Drei Wochen lang haben wir nur Kartoffelschalen gefressen. Vati war ja sehr einfallsreich, der hat immer mit den Russen getauscht und einmal ist er mit einem Koffer voller Eis nach Hause gekommen. Das ist so richtig schön rausgetropft.

II
Am Moritzplatz haben sie die Leichen nicht mehr weg gekriegt. Da haben sie dann eine Mauer drum gebaut. Na sagen wir mal, ich bin regelrecht über die Berge rüber gekrochen. Zwei Tage hab ich gebraucht bis nach Pankow durch die Trümmer. Mutti hat schon gedacht, ich wär tot.

Ich hatte das gelernt, Verbände machen. Immer wenn die Flieger weg waren musste ich raus. Der Pfleger hier, ich sag mal so, weil ich da nichts anderes zu sagen kann, der ist ja ein Schwarzer. Da ist er ja schon wieder, der Frechdachs. Gestern hat er stundenlang an meinem Verband rumgefummelt, da hab ich ihn gefragt, ob ich noch Hilfe für ihn rufen soll, wenn er jetzt immer noch nicht fertig ist.

III
Tante Else hatte einen Kolonialwarenladen in Schöneweide. An der Straße entlang der Spree, na sagen wir mal: nicht weit vom Fluss. Da hab ich dann gesessen und die Hände tief in

die Säcke mit den Linsen. Ach, das war schön. Im Krieg hab ich dann zeichnen gelernt. Da haben sie mich die Pläne durch die Stadt fahren lassen, weil ich ja so ein junges Mädchen war. Auf dem Fahrrad, die Friedrichstrasse runter und dann nach rechts auf die Leipziger, immer geradeaus bis zum Heeresamt. Das waren die Geheimpläne für die V2. Na da will ich mal sagen, da hat keiner Verdacht geschöpft.

IV
Meine Tochter Alma, die meiner Tante für Different Bombs ihre Sprech- und Singstimme leiht, ist heute etwa so alt, wie diese war, als sie die Pläne der V2 beim Heeresamt ablieferte.

NATALY BLEUEL im Gespräch mit dem Komponisten MARC SINAN über sein neues Stück DIFFERENT BOMBS (Januar 2021)

Dein nächstes Stück heißt DIFFERENT BOMBS und ist inspiriert von ‚Different Trains’ von Steve Reich aus dem Jahr 1988. Reich erzählt darin von den Zugfahrten, die er als Junge zwischen New York und Los Angeles machen musste, um seine getrennten Eltern zu besuchen. Später fiel ihm auf, dass er zur gleichen Zeit Zug fuhr, als die europäischen Juden in Zügen in Konzentrationslager deportiert wurden. Was verbindet euch?

Mein Stück handelt teilweise in einer ähnlichen Zeit, nämlich als meine Tante als junges Mädchen die Pläne der V2, also der sogenannten Wunderwaffe der Nazis, mit dem Rad durch das zerstörte Berlin fuhr. Wie Reich habe ich Aussagen eingearbeitet, nämlich die Niederschrift von Gesprächen mit meiner heute 91jährigen Tante, die leicht verfremdet von meiner ältesten Tochter gesprochen werden. Sie ist gerade so alt wie meine Tante war, als sie die Pläne der V2 überbrachte. Meine Tante war zu Kriegszeiten also Teenager und wollte unbedingt zum Bund Deutscher Mädchen. Ihr Vater, also mein Großvater, war Sozialdemokrat und ein cleverer Typ, der es geschafft hatte, nicht in den Krieg eingezogen zu werden.

Die Bombe ist, ahnlich wie die Züge, ein Mittel ohne Moral. Sie verbindet Täter und Opfer.

Er war Blockwart und hatte die Aufgabe, Lebensmittelmarken zu verteilen. In seinem Wohnblock hatte ein Freund von ihm eine jüdische Familie im Speicher versteckt und dem steckte er extra Lebensmittelmarken zu. Es war eine Art Heldentum in zweiter Reihe. Doch eines Tages sagte meine Tante zu ihm: Wenn du mich nicht zum Bund Deutscher Mädchen lässt, dann verrate ich dich! Das wäre höchstwahrscheinlich das Todesurteil für die jüdische Familie gewesen – und es hätte in gewisser.

Weise auch die Familie meiner Eltern zerstört. Ein Mädchen in dem Alter kann das vielleicht nicht ahnen. Aber mein Großvater hat sie daraufhin fürchterlich geschlagen. Aus meiner Sicht ist dieser Konflikt nie gekittet worden. Weder mein Großvater noch meine Tante kamen je darüber hinweg – und auch mein Vater und sie hatten lebenslang ein sehr schlechtes Verhältnis. Es ist eine von vielen exemplarischen Geschichten dafür, wie Opfer und Täter in einer Familie bestehen können.

Was bedeuten die Bomben in diesem Zusammenhang?

Die Bombe ist, ähnlich wie die Züge, ein Mittel ohne Moral. Sie verbindet Täter und Opfer. Und eigentlich geht es mir wieder einmal darum zu erzählen, wie man gleichzeitig Täter und Opfer sein kann. Auch in den vorherigen Stücken AGHET oder KOMITAS, war der Zusammenhang von Opferschaft und Täterschaft mein Thema. Diesmal ist es nicht die Geschichte meiner armenischen Großmutter, die als einziges Kind in einem armenischen Kinderheim den Genozid überlebte.

Wer sind diesmal die Täter und die Opfer?

Ein Opfer ist sicher mein Vater. Er war, 1938 geboren, ein Kriegskind. Er selbst hat nie darüber gesprochen. Wenn es nur annähernd um Krieg ging, brach er in Tränen aus und das galt in unserer Familie als Zeichen von Schwäche. Mir hat er mal eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen erzählt: Wie er auf dem Lenker seines Vaters saß und sie die Schönhauser Allee Richtung Norden fuhren, und rechts und links von der Hochbahn schlugen die Granaten ein. Das war mein Impuls, der Frage nachzugehen: Wie kann man als Deutscher von Opferschaft erzählen, ohne in eine Ecke mit Rechten gestellt zu werden? Ich denke, man muss verstehen, dass man im gleichen Maße Opfer sein kann, wie Täter.

Wie würdest du deinen Töchtern erklären, was die V2 war?

Das war die Wunderwaffe, die den Krieg drehen sollte. Die Rakete war innovativ und quasi die erste, die ins All fliegen konnte. Wernher von Braun-Fans feiern die heute noch. Obwohl sie nicht zielgenau war. Aber Angst und Schrecken verbreitete. Sie war so schnell, dass man den Knall erst nach der Explosion hörte. Daher war sie unberechenbar. Im Grunde war sie eine Vorstufe der Kampfdrohne. Ein maximal entmenschlichtes System, das denjenigen, der sie losschickt, trennt von denjenigen, die sie trifft. Täter und Opfer werden dadurch auf eine gewisse Art entkoppelt.

Und deine Tante, war sie eine Täterin?

Meine Mutter kam 1963 aus Istanbul nach Deutschland. Sie hatte in Istanbul eine privilegierte Privatschule besucht, die sich ihr Vater vom Mund abgespart hatte. Als meine Eltern schon ein paar Jahre verheiratet waren, sagte meine Tante: Du hast ja jetzt schon viel gelernt, hier in Deutschland, du kannst ja jetzt einen Haushalt führen. Meine Tante trägt bis heute diesen tief eingeprägten, angelernten Rassismus in sich. Die Tage musste sie wieder ins Krankenhaus und erzählte mir, da sei ein Pfleger, ‚ein Schwarzer‘, anders kann sie den nicht sehen, und das sei ein ‚Frechdachs‘, dem sie mal zeigen müsse, wie man Verbände anlegt.

Sie hat sich der Frage nach ihrer Verantwortung nie gestellt?

Die spart sie, wie viele andere, einfach aus. Dabei müsste man erkannt haben mit 90 Jahren, dass das furchtbare Leid, das man erlebt und mitangesehen hat, von Menschen verursacht wurde, die genauso handeln wie sie gehandelt hat. Eben von jungen Frauen, die durch London fahren, und stolz darauf sind, die Pläne von Waffen zu transportieren, die in der Lage sind, den Feind zu vernichten. Diese Erkenntnis ist ja eigentlich ein kurzer Weg: Dass mein Nachbar von einer Bombe zerrissen wird – und ich ein Teil des Räderwerkes bin, das dieses Leid auch in London und Antwerpen verursacht. Diese Brücke scheint unser Gehirn nur machen zu können, wenn es wirklich daran arbeiten möchte. Das möchte es aber meistens nicht.

Warum ist der Neandertaler ausgestorben?  Weil, sagt er, der Homo Sapiens genozidal ist und ihn vollständig vernichted hat.

Deswegen ist die Entkopplung so praktisch – durch Waffen, die diesen Zusammenhang weitestgehend verschleiern, also Raketen?

Wenn man dem Historiker Yuval Harari Glauben schenken will, dann ist die Vernichtung des Anderen, bis hin zum Genozid, ein zutiefst menschliches Programm. Warum ist der Neandertaler ausgestorben? Weil, sagt er, der Homo Sapiens genozidal ist und ihn wohl vollständig vernichtet hat.

Wie kommst du jetzt gleich auf Genozid?

Das ist halt das Thema, von dem ich was versteh’. Das hängt doch zusammen! Es steckt doch mehr dahinter, als die Naivität einer 15jährigen, wenn ein Mensch einen Lustgewinn daran empfindet, so was Tolles wie die Pläne einer Waffe zu transportieren. Ein vernunftbegabter Mensch würde doch sagen: Ich mache mich nicht zum Teil einer solchen Perversion! Es gibt offenbar das Programm des Unterbewussten, weshalb wir an so etwas einen Lustgewinn empfinden, nämlich: der Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben. Indem ich den anderen vernichte, habe ich einen (Lust-)Gewinn. Das ist etwas Archaisches.

Es gibt nicht wenige Menschen, die einen Lustgewinn an der ‚reinen’ Technik haben, am Bau einer Maschine, eines Computers, einer Rakete. Und die es bewerkstelligen, Nutzen und Zweck dieser Technik auszublenden.

Das sind Teile der Bewegungen, die zu diesem archaischen menschlichen Vernichtungsprogramm gehören.

Waffenherstellern muss man doch zwei Fragen stellen:

A) Wie funktioniert das Ding technisch? B) Wie und wo wird es eingesetzt? Das wollt ihr auch im Zusammenhang mit ORDINARY PEOPLE tun: Das Stück entwickelte sich vor dem Hintergrund des Krieges um Bergkarabach, der als der erste zwischenstaatliche Konflikt gilt, in dem Kampfdrohnen kriegsentscheidend waren. Da haben aserbaidschainische Truppen mit Hilfe türkischer Kampfdrohnen in kürzester Zeit die armenischen Gegner in ihren russischen Panzern besiegt, weil die Waffentechnologie überlegen ist. Eine Drohne vernichtet präzise und schnell die gegnerischen Kampftruppen am Boden und verringert die Gefährdung der eigenen Truppe. Es ist eine Technologie, die von türkischen, israelischen, amerikanischen und zum Teil auch deutschen Firmen entwickelt und hergestellt wird. Und die, das wollen viele, für die Bundeswehr erworben werden soll – nicht nur zur Aufklärung, sondern auch als Waffe. Technik-Nerds sagen dazu: ‚Weil das eine super Waffe ist, die man nicht verteufeln sollte, denn ihre Algorithmen sind in der Lage, weniger Tod zu verbreiten als der Mensch hinter einer Waffe. Sie tötet sauberer und präziser als der Mensch. Und sie ist auch noch billiger als schweres Gerät und ungeheuer mobil. Eine beeindruckende digitale Wunderwaffe.‘

In Bergkarabach gibt oder gab es eine überwiegend armenische Bevölkerung, die es vor etwa 30 Jahren auch durch militärische Intervention geschafft hatte, die aserbaidschanische Bevölkerung dort systematisch zu vertreiben. Es wurde ein unabhängiges armenisches Bergkarabach proklamiert. Auf der anderen Seite hatte man einen aserbaidschanischen Staat, der, autoritär geführt, das Ziel hatte, dieses Gebiet mit Hilfe der Türkei zurück zu erobern. Davor, muss man wissen, gab es Massaker an Armeniern in Aserbaidschan.

Und Vertreibung und Genozid an den Armeniern durch die Türken in der Region.

Als Enkel einer überlebenden Armenierin bin ich in diesem Zusammenhang parteiisch: Die ultimativ Bedrohten sind in diesem Konflikt die Armenier, deren Safe Space und Rückzugsort Armenien heute ist. Sie lebten vor dem Genozid durch die Türken in einem viel größeren Siedlungsgebiet in Anatolien, mit einer ausgeprägten eigenen Kultur. Beides wurde 1915 fast vollständig vernichtet und diese Vernichtung wurde bis heute von keiner türkische Regierung eingestanden. Der aktuelle Krieg wurde entscheidend geprägt durch ein Ungleichgewicht der militärischen Möglichkeiten und entschieden durch die Überlegenheit des aserbaidschanischen Militärs in Kooperation mit den Türken – durch den Zugriff auf Drohnentechnologie. Auf der einen Seite saßen Soldaten in Panzern, auf der anderen wurden Kampfdrohnen vom Computer aus einem Office ferngesteuert. Natürlich gab es auch Auseinandersetzungen, die eher an den ersten Weltkrieg erinnerten als an ‚moderne Kriegsführung‘. Doch all das war Anlass für mich, den Zusammenhang von Täter- und Opferschaft in diesen Zeiten wieder zu betrachten. Und das liegt auch daran, dass ich mich in diesem Konflikt so klar gar nicht positionieren kann: Weil es da auch um aus ihrem Lebensraum Bergkarabach vertriebene Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner geht.

Zu welchen Schlussfolgerungen bist du gekommen?

Ich glaube, dass wir an der Art und Weise, wie wir mit der Systematisierung des Tötens und der Abstraktion von Kriegsführung verfahren, ablesen können, wie sich in einer hyperzivilisierten Gesellschaft ein zutiefst animalisches oder archaisches Programm übersetzt – in Handlungsweisen, die hochgradig technisch sind. Der genozidale Trieb, wie ihn Harari in seinem Buch beschreibt, wird in eine Kulturtechnik übersetzt, die eben unserer Zeit entspricht. Und das in einer Gesellschaft, in der wir uns recht intensiv mit dem Empfinden beschäftigen, mit unserem eigenen und dem von anderen. Wir fragen uns, ob das Ferkel, aus dem unser Hamburger ist, glücklich war oder nicht. Und wenn es ein Zertifikat des Glücklichgewesenseins in einem Bio-Bauernhof bekam, dann finden wir es legitim, den Burger zu essen.

Das ist der Ausweg für eine Gesellschaft empfindsamer Menschen, in denen das genozidate Program

Was hat das jetzt mit der Kampfdrohne im Kaukasus zu tun?

So eine Gesellschaft will oder muss also ein Verhältnis zum Töten finden. Und dieses Verhältnis bildet sich ab in einem System, bei dem die Verantwortung für das Töten systematisch ausgelagert wird. Es passieren zwei Dinge: Es wird diversifiziert, das heißt, ich habe viele kleine Unternehmen, die nötig sind, um so eine hochkomplexe Waffe herzustellen. Kampfdrohnen werden in Israel, USA, China, der Türkei hergestellt, von europäischen Firmen kommen vermutlich eher Software-Technologie oder Munitionsbatterien. So genau ist das aber nicht in Erfahrung zu bringen, streng geheim. Nicht mal dem Bundestag wird der Name der israelischen Firma genannt, die – obwohl us-amerikanische billiger gewesen wären -, die deutsche Regierung mit der Lieferung von Drohnen zu Aufklärungszwecken beauftragt hat. Das ist schon mal praktisch, denn man hat nicht mehr den einen Bombenbauer. Man kann nicht mehr sagen: Ihr von Rheinmetall oder MBB, DASA oder MDBA seid die Schweine! Sondern es gibt da einen Halbleiterhersteller, einen Designer von Flugobjekten, einer stellt die Motorteile her, einer die Abschussbatterie und einer, ganz sauber, nur die Software-Technologie. Die Waffe heißt auch nicht mehr Rakete oder Bombe, sondern Luftlenkkörpersystem oder so. Rüstungsfirmen geben sich einen Code of Ethics and Compliance, sie wollen wie jedes zeitgemäße Unternehmen für Integrität und Nachhaltigkeit stehen, årufsfreiheit der Unternehmen. Würde man die Auftragssummen und die Hersteller nennen, könnte man Rückschlüsse über ihre privaten Gewinne ziehen. Das ist unlauter. Deswegen gibt die Regierung dem Volk und seinen Vertreter:innen keine Auskunft darüber, welche Waffen sie wo produzieren lassen. Wir haben also eine Maschine, die keinen Schöpfer hat und auch keinen Lenker, denn die Waffe handelte anhand ihrer Algorithmen autonom. Das heißt, sie übernimmt die Verantwortung für ihr Tun, für das Töten.

Wir wollen Wurst ohne Tiere und Krieg ohne Täter. Und wir haben es in beiden Fällen geschafft, die Tat so weit auszulagern, auszublenden und zu diversifizieren, dass man das Tabu nicht mehr mitansehen muss. Tiere, die getötet werden. Targets, die per Fernbedienung eliminiert werden.

Es ist Schlachten ohne Schlächter. Das ist der Ausweg für eine Gesellschaft empfindsamer Menschen, in denen das genozidale Programm steckt.

Auf den Tragflügeln der aserbaidschanischen Drohne steht: „Jagt sie wie Hunde! / Macht sie scharf!“

Das sind scheinbar hoch komplexe Prozesse, die nichts anderes abbilden als ‚Homo Sapiens’. Und jetzt meine Frage: Brauchen wir da nicht einen anderen Menschen? Einen, der den anderen nicht töten will? Denn das Entscheidende ist doch, dass wir Menschen eigentlich vernunftbegabt sind und uns entscheiden können – und müssen: Wie ethisch wollen wir uns dem Töten gegenüber verhalten? Wenn beispielsweise Armenien in der europäischen Außenpolitik wahrgenommen würde, könnte man den Einsatz von Waffen verhindern. Wenn man sich für zivile Vermittlung wirklich stark machen würde, bräuchte man keine Waffen. Ansatzweise haben wir das ja sogar mit der Atomwaffe geschafft. Wir haben ihre Herstellung und ihren Besitz reglementiert. Aber, entsprechend dem Prinzip des genozidalen Programms, dürfen einige sie besitzen, um die anderen potentiell zu vernichten und also zu beherrschen.

Deswegen sind die Befürworterinnen und Befürworter so begeistert von der Kampfdrohne: Sie ist präzise und sauber. Sie tötet nicht so brutal wie die Atombombe. Im Grunde könne sie jeder haben, denn sie sei preiswert. Sie sagen: Die pazifistisch-humanistische Idee ist ja wunderschön – aber wir können uns nicht überall raushalten. Die Augen verschließen vor dem Tabu. Und die anderen die Drecksarbeit machen lassen.

Ich bin gegen jede Form von Drecksarbeit. Total, komplett, überall. Ich will keine Waffe, die besser tötet. Ich will gar keine. Sondern Europäerinnen und Europäer, die ihre humanistischen Grundwerte vertreten, indem sie sich gemeinsam in der Welt stark machen für Demokratie und Frieden.

Und wie hast du all diese Gedanken nun musikalisch in DIFFERENT BOMBS über- oder umgesetzt?

Die musikalische Umsetzung ist wie ein Match. Ich habe zwei Gegner, zwei Bands, die sich gegenüberstehen. Zwei 12köpfige Bands mit 4 E-Gitarren, 4 Bratschen und 4 Kontrabässen, die virtuell an zwei Enden der Bühne stehen, aber de facto werden es drei Musiker sein: Meinrad Kneer am Kontrabass, Saša Mirkovic an der Bratsche und ich an der Gitarre. Bei Steve Reich ist es so, dass ein Streichquartett live spielt und mehrere Streichquartette vom Band kommen, so ist es bei uns im Prinzip auch. Der Punkt ist: Text und Musik passen eigentlich nicht zusammen. Eigentlich ist es das Einfachste, Text mit einer Musik zu untermalen. Aber in diesem Stück weigert sich alles in mir, das zu tun. Ich habe eine sehr aggressive Tonspur, die emotionale Volten vollzieht, die nichts mit dem Text zu tun haben. Und ich kann daran gerade überhaupt nichts ändern. Es ist vermutlich der Sound des Krieges und des Tötens. Wie der Mechanismus des Verklausulierens der Gesellschaft vor der Waffe, habe ich ein Stück, das wie ein dreister Scherz diese abgründige Geschichte erzählt. Weil es mich aggressiv macht, dass beim Sprechen über hypermoderne Waffen diese Dimension ausgeblendet wird, nämlich die Frage, warum der Mensch tötet. Ich muss doch ganz klar sagen: So etwas wie eine Kampfdrohne sollte nicht mal annähernd gedacht werden! Warum denkt der Mensch sich so etwas aus? Es ist die seit Generationen und Generationen wiederholte Deklination der Frage: Was wollen wir eigentlich von unserem Menschsein?

Was willst du?

Es ist doch so: Wir können uns vorstellen, auf dem Mars zu leben, aber nicht in einer Gesellschaft, in der jede Form der Kriegswaffen geächtet wird. Als Utopie muss das unbedingt bestehen. Ist es nicht irre, wie sehr wir in unserem Denken von Pragmatismus geprägt sind? Wenn wir eine andere Art betrachten würden, Schimpansen oder Ähnliches und die würden so aufrüsten, wie wir das tun – würden wir doch sagen: Was für eine dumme, unintelligente Spezies ist das denn? Das sind wir Menschen.

Es ist doch so: Wir können uns vorstellen, auf dem Mars zu leben, aber nicht in einer Gesellschaft, in der jede Form der Kriegswaffe geächtet wird.

Marc Sinan
Komposition,
Musikalische & Künstlerische Leitung

Maike Wetzel
Libretto

Nataly Bleuel
Recherche und Interview

Karsten Lipp
360° Sound Design

Holger Kuhla
Dramaturgie

Marc Sinan Company
Alma Su Baute (Gesang, Sprache)
Meinrad Kneer (Kontrabass)
Saša Mirković (Violia)
Marc Sinan (E-Gitarre. Elektronik)

 

Gefördert durch:

Nur Baute (Website)
Graz Diez (Fotos)